Freitag, 6. Februar 2015

Masern in Berlin

Ein Masernausbruch mit Hunderten Erkrankten in Berlin zeigt: Das Ziel, das gefährliche Virus bis 2015 in Deutschland auszurotten, ist bereits zu Jahresbeginn gescheitert. Schuld sind große Impflücken.

Der große Masernausbruch in Berlin ist nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) einer der größten seit Geltung des Infektionsschutzgesetzes aus dem Jahr 2001. Seit Beginn der Ansteckungswelle im Oktober sind in der Hauptstadt 375 Menschen erkrankt – über die Hälfte davon Erwachsene.
Und der Ausbruch hält weiter an: Allein im Januar gab es 254 neue Masernfälle in Berlin. Und 90 Prozent der bisher befragten 335 Patienten gaben an, nicht gegen Masern geimpft zu sein. Mehr als 100 Patienten kamen nach der Statistik des Landesamtes für Gesundheit und Soziales bisher ins Krankenhaus.
Die Ansteckungswelle in der Hauptstadt macht deutlich, dass die Pläne der Bundesregierung zur Ausrottung der Masern in diesem Jahr zu ehrgeizig sind – die Impflücken dafür sind immer noch viel zu groß. Ginge es nach den Zielen der Bundesregierung, dürfte es in Deutschland in diesem Jahr nicht mehr als 82 Masernerkrankungen geben – wohlgemerkt bundesweit. Denn auch die Bundesrepublik hat sich bei der Weltgesundheitsorganisation WHO verpflichtet, die hochansteckende Infektionskrankheit bis 2015 auszurotten. Es ist auch sehr viel passiert. Bei Kindern haben sich die Impfquoten seit dem Jahr 2000 erheblich verbessert, wie Untersuchungen zum Schulbeginn belegen. Bei der Erstimpfung liegen sie heute bei 96,7 Prozent, bei der Zweitimpfung immerhin schon bei 92,4. Aber erst ab 95 Prozent kann eine Eliminierung der Krankheit langfristig gelingen. Und noch immer wird jedes dritte Kleinkind in Deutschland einer Studie vom Sommer 2013 zufolge nicht zur rechten Zeit und nicht ausreichend gegen Masern immunisiert.





"Insgesamt ist der Impfstatus in der Bevölkerung weiterhin zu gering", bilanziert Anette Siedler, amtierende Leiterin des Fachbereichs Impfprävention am RKI. "Der Berliner Ausbruch ist ein herber Rückschlag." Einer, der die Impflücken in Deutschland sehr deutlich mache. Zu Beginn der Infektionswelle waren laut RKI überwiegend Asylsuchende aus Bosnien, Herzegowina und Serbien betroffen. Ein Grund dafür war, dass in den Bürgerkriegswirren der 90er-Jahre in Ex-Jugoslawien nicht mehr routinemäßig geimpft werden konnte. Insbesondere Asylsuchende aus Bosnien und Herzegowina sollten bei der Untersuchung nach Ankunft hier in Deutschland so schnell wie möglich eine Impfung zur Immunisierung gegen Masern erhalten, empfiehlt das RKI.
Mittlerweile treten Erkrankungsfälle jedoch überwiegend in der Berliner Bevölkerung auf, darunter auch viele Männer und Frauen, die nach 1970 geboren wurden. Für diese Jahrgänge gibt es eine Impflücke, weil eine zweite Impfung für den vollständigen Schutz vor 1991 noch nicht bundesweit empfohlen wurde. Ältere Jahrgänge sind dagegen oft geschützt, weil sie vor dem Beginn der Impfkampagne vor 40 Jahren geboren wurden – und die Masern bereits durchmachten.

Ulrich Fegeler, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, wundert der Ausbruch in Berlin trotz aller Fortschritte bei der Prävention nicht. "Die Politik tut einfach noch zu wenig, das ist ein Eiertanz", kritisiert er. 2013 hatte Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) laut über eine Impfpflicht bei Masern als letztes Mittel nachgedacht – wie früher, als es um die Ausrottung der Pocken ging. Gehör fand er nicht. Fegeler fände es schon hilfreich, wenn alle öffentlichen Einrichtungen von der Kita bis zur Schule einen Impfnachweis vor der Aufnahme eines Kinder verlangten. Denn seit Langem herrscht Konsens darüber, dass Masern eine der gefährlichsten Kinderkrankheiten weltweit sind. Für Kleinkinder sind Masern sogar eine der häufigsten Todesursachen. "Der Virus greift das Immunsystem massiv an und schwächt es für mindestens sechs Wochen", erläutert RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher.
Die Krankheit tritt zwar am häufigsten bei Kindern auf, doch nach Angaben des RKI ist die Infektion für Erwachsene besonders gefährlich. "Stecken sich Erwachsene an, verläuft die Krankheit wesentlich schwerer als bei Kindern", so Glasmacher. Etwa jeder zweite Erkrankte müsse dann ins Krankenhaus.
Folgen können im schlimmsten Fall Gehirnentzündungen sein – manchmal mit lebenslangen Schäden wie geistigen Behinderungen. Zwei von 1000 Patienten sterben nach den RKI-Statistiken an den Folgen einer Maserninfektion. Schon für Säuglinge, deren Mütter nicht geimpft sind, kann sie hochgefährlich werden. Denn dann greift kein Nestschutz – und unter elf Monaten sollen Kleinkinder nicht gegen Masern immunisiert werden.

Hilflos gegenüber den Erregern, die sich schon durch einfaches Niesen übertragen lassen, können aber alle Menschen mit chronischen Erkrankungen und schwachem Immunsystem sein, ergänzt Fegeler. "Meiner Meinung nach ist es für jeden ein Gebot der Verantwortung, selbst für einen ausreichenden Impfschutz zu sorgen."
Zwang hält Anette Siedler für den falschen Weg. Verpflichtende Impfnachweise an Schulen hätten in den USA wenig gebracht. Auch dort läuft gerade eine Masernwelle, die im Dezember im Disneyland in Kalifornien ihren Anfang nahm.
Bereits 100 Kranke im Januar lassen die Behörden nervös reagieren. Denn sie glaubten, die Masern im Griff zu haben. Nun zeigt sich, dass Ausnahmegenehmigungen der Wunschimpfquote entgegenwirken. Siedler setzt deshalb in Deutschland weiter auf Information und Überzeugung. Doch auch die RKI-Expertin warnt: "Masern sollte man auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen, weder bei Erwachsenen noch bei Kindern".
Alle großen deutschen Ausbrüche, wie der vor zwei Jahren, der zur zeitweiligen Schließung von Schulen führte, haben bisher immer nur einen kurzen "Aha-Effekt" ausgelöst. Nötig ist ein anderes Bewusstsein. Viele Eltern haben das zum Schutz ihrer Kinder bereits entwickelt, insbesondere seit die Impfungen an Vorsorgeuntersuchungen gekoppelt sind. Was fehlt, sind oft die Erwachsenen selbst. Dabei überwiege der Nutzen der Immunisierung in jedem Fall das Risiko durch die Impfung. Der Impfstoff kann im Einzelfall zu Hautrötungen, Schwellungen, Fieber und leichtem Hautausschlag führen – das sei aber kein Vergleich zu den Effekten einer Masernerkrankung.

Wann die Berliner Welle abebbt, lässt sich nicht vorhersagen. Der Winter begünstigt Ansteckungen, weil das Immunsystem ohnehin stärker gefordert ist. Masern beginnen mit typischen Erkältungssymptomen und werden deshalb oft nicht sofort erkannt. Mehr als 90 Prozent der Menschen ohne Impfschutz, die mit dem Virus in Kontakt waren, erkranken. Tückisch ist dabei, dass Betroffene häufig erst zu spät erkennen, dass sie an Masern leiden. Bis die tatsächliche Ursache der Krankheit bekannt ist, haben sich häufig schon weitere Menschen aus dem Umfeld angesteckt.

In Südamerika und einigen südafrikanischen Ländern gelten Masern seit 2002 als ausgerottet.  In diesen Ländern sei ein hoher Impfstatus Standard.
Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt zwei Impfungen gegen Masern. Die Erstimpfung sollte bei Kindern im Alter von 11 bis 14 Monaten erfolgen und nach vier bis sechs Wochen durch die zweite ergänzt werden.